Abstract
Eine phänomenologische Analyse des Selbstbewusstseins erbringt den Nachweis, dass die Selbsterfahrung stets eine Erfahrung des Selbstverlusts impliziert. Dieser Befund beruht auf der richtig verstandenen Intentionalität bzw. Transzendenz des Subjekts. Diese These wird im vorliegenden Artikel vor allem mit dem Hinweis auf die Phänomene des moralischen Gewissens, der synthetischen Funktion des Ich, der differenziellen Struktur von Selbstbezug und Selbstrepräsentation, sowie der leiblich bestimmten, affektiven Selbsterfahrung illustriert. Bereits bei Kant ist die Selbstgesetzgebung des moralischen Subjekts die Folge eines Aufrufs durch das Gesetz. Autonomie schliesst somit eine besondere Form der vernunftmässigen Heteronomie nicht aus. Die ursprüngliche Form der moralischen Selbsterfahrung liegt nicht in der ausdrücklichen Ausrichtung des Subjekts auf das Gesetz, sondern im Hören auf das Gesetz, nicht in der allgemeinen Rechtfertigung des eigenen Handelns, sondern im individuellen Gewissen. Unter Hinweis auf Heidegger, Freud und Lacan wird anschliessend aufgezeigt, dass das Subjekt für sich selbst ein Fremdes bleibt. Selbsterfahrung bedeutet Erfahrung der eigenen Verlorenheit im alltäglichen Besorgen, in unbewussten Wünschen und in der Anonymität der Sprache. Selbsterfahrung impliziert somit die Aufgabe einer Selbstfindung und einer Vereinigung mit sich selbst. Es handelt sich dabei jedoch um eine unendliche Aufgabe, da jede Selbsterfahrung des endlichen Subjekts einen neuen Selbstverlust impliziert. Das Selbst des Subjekts ist somit eine Einheit bzw. Identität, welche die Differenz mit sich selbst nicht aufhebt, sondern stets von neuem ins Spiel bringt. Diese differenzielle Struktur der Selbstrepräsentation und die darin implizierte Form der Selbstverantwortung spielt vor allem im Werk von Derrida eine wichtige Rolle. Jede subjektive Selbsterfahrung ist in der menschlichen Affektivität verwurzelt. Ich erfahre mich selbst, wenn ich getroffen und berührt werde und zwar nicht durch mich selbst, sondern durch ein anderes das mich be-trifft. Im Gefühl und in der Rührung entsteht ein leibliches Selbst, das von je her durch das andere angesprochen und in Anspruch genommen wird. Dies gilt nicht nur für die Sexualität, sondern für alle anderen, bereits erwähnten Formen der Selbsterfahrung einschliesslich das moralische Gewissen. Der Leib als „Organ des Willens "ist zugleich und zuerst ein sinnlicher Leib