Abstract
Im Jahr 1805 bezeichnete der Arzt Jean-Étienne Esquirol eine therapeutische Methode mit dem Begriff des „moralischen Schocks“ (sécousse morale). In vorliegendem Aufsatz wird dargestellt, inwiefern im Rahmen der Entwicklung der französischen Humanwissenschaften (sciences de l’homme, science social) um 1800 der Bezug auf den terreur konstitutiv für die Formierung dieser Behandlungsmethode war. Die psychiatrische und pädagogische Diskussion über diese nicht physische Einwirkung auf den Geist (esprit) von menschlichen Forschungsobjekten und Patient_innen bezog sich dabei wesentlich auf die Frage, ob das Volk durch die schockartige Aufwallung der Revolution aus den unfreien Gewohnheiten des ancien régime befreit werden könne. Nach 1800, so wird im Folgenden gezeigt, bildete sich das professionelle Selbstverständnis der psychiatrischen und pädagogischen Expertise heraus, mit der Schocks in professionell kontrollierten Settings eingesetzt werden konnten, während die heilsame Wirkung des revolutionären Schocks negiert wurde. Im Aufsatz werden hierfür vier verschiedene Perspektiven auf die pathogenen oder heilsamen Wirkungen von Schocks unterschieden. Gestützt auf publizierte Texte und Material aus den Archives nationales sowie dem Institut national de jeunes sourds wird so im Aufsatz eine politische Geschichte der Entwicklung des moralischen Schocks entfaltet und die These vertreten, dass die Entwicklung von epistemischen und therapeutischen Techniken in den Humanwissenschaften wesentlich von der Abgrenzung von revolutionärer Gewalt sowie dem humanwissenschaftlichen Wunsch nach einer stabilen Regierung getragen war.