Der Weg ist das Ziel. Der Mertonsche Ritualismus und seine Bedeutung für die Kriminalwissenschaften
Abstract
Der kürzlich verstorbene US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton war der prominenteste und einflußreichste Anomie-Theoretiker nach Emile Durkheim. Seine Typologie der Arten individueller Anpassung an anomische gesellschaftliche Situationen bietet heute noch eine wertvolle Grundlage zur Analyse von Gesellschaften. Dieser Beitrag konzentriert sich auf einen dieser Anpassungstypen, den Ritualismus, der Merton zufolge beinhaltet, daß einerseits die kulturellen Ziele, allen voran das des wirtschaftlichen Wohlstands, heruntergeschraubt oder aufgegeben und andererseits die institutionellen Normen zur Erreichung dieser Ziele beinahe zwanghaft befolgt werden. Diese Definition überdenkend versucht der vorliegende Beitrag herauszuarbeiten, daß innerhalb des Systems der Anpassungsformen das Herunterschrauben der kulturellen Ziele nicht das Hauptcharakteristikum ritualistischen, sondern konformen Verhaltens darstellt. Ritualisten haben den Prozeß des Herunterschraubens vielmehr bereits beendet, indem sie jegliche kulturellen Ziele aufgegeben haben, bis auf den einen Wert an sich, nämlich die institutionellen Regeln einzuhalten.Ritualistische Anpassung ist aus Merton`s Sicht für die Soziologie abweichenden Verhaltens, ganz zu schweigen von den Kriminalwissenschaften, nicht von Interesse. Im Gegensatz zu dieser Einschätzung versucht dieser Artikel die verschiedenen soziologischen und sogar kriminologischen Implikationen ritualistischen Verhaltens darzustellen, mit dem Ergebnis, daß Ritualismus sehr wohl ein soziales Problem darstellt. Der Ritualist unterwirft sich nicht nur selbst den institutionellen Normen, sondern fühlt sich auch dazu berufen, andere ständig an die Einhaltung der Regeln zu gemahnen und sie zu überwachen. Deshalb gibt es viele typisch ritualistische Formen abweichenden Verhaltens, wie Denunziation, erzieherischer Tadel oder Mobbing, die sogar in kriminelles Verhalten wie falsche Verdächtigung, Nötigung oder Beleidigung kulminieren können.Am schillerndsten ist die Rolle des Ritualisten in der Kriminalpolitik, nicht zuletzt heute in der Bundesrepublik. Repression jeglicher Art ist seine Antwort auf Regelverstöße und die Kriminalpolitik macht zunehmend Zugeständnisse an ritualistische Forderungen nach härterer und schnellerer Bestrafung oder umfassender Überwachung des öffentlichen Raumes. Ritualisten dominieren den sozialen Diskurs und die allgemeine Wahrnehmung von Kriminalität nicht nur, weil sie wichtige Nutzer und damit Zielgruppe gewisser Massenmedien sind und gerne Leserbriefe schreiben. Sie sind so dominant, weil ihre Art der Anpassung bei zunehmender wirtschaftlicher Krise die Konformität der Wirtschaftswunderzeit zurückgedrängt hat und heute die am weitesten verbreitete in der deutschen Gesellschaft ist. Daher ist auch die schon seit Jahrzehnten zu beobachtende Verschiebung der theoretischen Strafzweckbegründung hin zur Positiven Generalprävention alles andere als ein Zufall. The recently deceased US-sociologist Robert K. Merton has been the most prominent and influential anomie theorist since Emile Durkheim. His typology of modes of adaptation to anomic social situations still constitutes a valuable basis for analyzing society. This contribution focuses on one of these types of adaptation, ritualism, which according to Merton, involves the scaling down or abandoning of the cultural goals, above all economic wealth, on the one hand and to abide almost compulsively by institutional norms to attain these goals on the other. In reconsidering this definition, this contribution attempts to elaborate that within the system of adaptive modes scaling down does not describe the main characteristic of ritualistic behaviour, but first of all characterizes conformity. Ritualists, on the contrary, have already completed the process of scaling down by finally abandoning any cultural goal except the one end-in-itself, that is to comply with the institutional rules.Ritualistic adaptation, in Merton`s view, is of no interest to the sociology of deviant behaviour, not to mention criminal sciences. In contrast to this evaluation this contribution tries to delineate the various sociological and even criminological implications of ritualistic behaviour, leading to the conclusion that Ritualism does indeed present a social problem. The ritualist does not only surrender himself to the institutional means but feels competent to constantly reminding others of abiding by the institutional norms and supervising them. Hence there are many typically ritualistic forms of deviant behaviour like denunciation, disciplinary reproof or mobbing that may even culminate in criminal behaviour like false suspicion, duress or insult.Most ambiguous is the ritualist`s part in criminal policy, not at least in contemporary Germany. Repression of any kind is his answer to breaches of the rules and criminal policy more and more concedes to ritualistic demands for more severe and rapid punishment or extensive supervision of public facilities. Ritualists dominate the social discourse and general perception of criminality, not only because they are important users and therefore the target group of certain mass media, and like to write letters to the editor. They do dominate because in times of increasing economic crisis their mode of adaptation has forced back the conformity of the German economic miracle era and is now the most common one in contemporary German society. Thus, the shift in the theoretical justification of punishment towards a theory of positive general prevention, noticeable for decades, is anything but accidental