Ein missing link auf dem Weg der Ethik von Wolff zu Kant. Zur Quellen-und Wirkungsgeschichte der praktischen Philosophie von Alexander Gottlieb Baumgarten
Abstract
Research on the history of ethics has ignored Alexander Gottlieb Baumgarten miserably. And that even though Kant based his lectures on moral philosophy on Baumgarten's text books over the course of decades. This article takes up the cudgels for this "in ethicis" most independent follower of Wolff. In addition to Baumgarten's epistemological elevation of perception, which is known to have resulted in the new foundation of aesthetics as an independent discipline, his reception of two lines of tradition was primarily decisive for an original further development of Wolff's basic approach. First, Baumgarten gave his practical philosophy a strong legal flavor through orienting it toward the natural law theory of his Jena teacher Heinrich Köhler. This legal character can be seen mainly in the then resulting predominance of the concept of obligation. Second, Baumgarten secularized the heritage of pietism in Halle by emphasizing the need for lively perception in order to act morally. Both with his orientation toward an ethics of duty, as well as with his highlighting of motivation, he laid the foundation for Kant's seminal transformations in this field.Die ethikgeschichtliche Forschung hat Alexander Gottlieb Baumgarten bisher sträflich vernachlässigt, obgleich Kant über Jahrzehnte hinweg dessen Handbücher seiner Vorlesung über Moralphilosophie zugrundegelegt hat. Demgegenüber möchte der vorliegende Beitrag eine Lanze für den auch 'in ethicis' selbständigsten Wolffianer brechen. Neben der erkenntnistheoretischen Aufwertung der Sinnlichkeit, die sich bekanntlich in der Neubegründung der Ästhetik als einer eigenen Disziplin niederschlug, war vor allem die Rezeption zweier Traditionslinien für eine originelle Fortentwicklung des Wolffschen Grundansatzes maßgeblich: Zum einen verlieh Baumgarten seiner praktischen Philosophie durch die Orientierung am Naturrecht seines Jenenser Lehrers Heinrich Köhler ein stark juridisches Gepräge, wie dies vor allem an der nunmehrigen Vorherrschaft des Verbindlichkeitsbegriffs abzulesen ist. Zum anderen säkularisierte er das Erbe des Halleschen Pietismus, wenn er etwa die Notwendigkeit lebendiger Erkenntnis für das sittliche Handeln unterstrich. Sowohl mit der pflichtethischen Ausrichtung als auch mit der Akzentuierung des Motivationsproblems hat er Kants epochemachenden Umwälzungen auf diesem Gebiet entscheidend vorgearbeitet.