Zur Interpretation der Emotionen fiktiver Figuren in fiktionaler Literatur: Eine systematische Analyse anhand von Flauberts "Madame Bovary"
Abstract
Die Hypothese meines Beitrags ist, dass Interpretationen fiktionaler Romane zum Teil rationale Erklärungen der emotionalen Zustände fiktiver Romanfiguren sein sollten. Der Hintergrund dieser Hypothese ist zum einen die generelle Definition von Interpretationen als rationalen Erklärungen und zum anderen die neue Theorie der affektiven Intentionalität von Gefühlen (eine Variante der kognitiven Gefühlstheorie). Diese Theorie unterscheidet mehrere Komponenten von Gefühlen und weist nach, dass eine überwiegend rationale Vernetzung dieser Komponenten eine notwendige Bedingung für ihre Interpretation ist (Abschnitt 1). Dieser methodische Zugriff lässt sich an geeigneten Romanen testen und verifizieren, beispielsweise an Flauberts 'Madame Bovary' – einer fiktionalen Geschichte, die sich als eine einzige komplexe und verkettete rationale Erklärung der suizidalen Verzweiflung Emmas deuten lässt. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine solche rationale Erklärung die Interpretation fiktionaler Romane ausschöpft. Vielmehr lassen sich fünf verschiedene, ineinandergreifende Stufen von Romaninterpretationen unterscheiden (Abschnitt 2). Gerade wenn Literaturinterpretationen eine komplexe Form annehmen, wird das bekannte Paradox virulent, dass wir uns bemüßigt fühlen, komplexe Interpretationen der Emotionen und Handlungen von Figuren zu liefern, die nicht existieren. In neueren Arbeiten zeichnet sich eine primär psychologische Lösung dieses Paradoxes ab. Zu dieser Lösung gehört der Befund, dass das Bemühen um rationale Erklärungen fiktiver Figuren unsere Fähigkeit, reale Personen in unserem sozialen Umfeld, aber auch in fremden Kulturen angemessen zu interpretieren, in erstaunlichem Ausmaß fördert.