Abstract
Die Entstehung von Herz- und Kreislaufkrankheiten durch Stress, das heißt psychosoziale Belastungen, war in den 1960er und 1970er Jahren ein bestimmendes Element des internationalen medizinischen Diskurses. In diesem Artikel wird eine ostdeutsche Variante des Stressdiskurses thematisiert, die von Rudolf Baumann und seinen Mitarbeitern am Institut für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie in Berlin-Buch entwickelt wurde. Die Gruppe versuchte, ebenso einen dezidiert materialistischen Zugang zum Problem psychosozial bedingter Krankheiten zu entwickeln wie Therapie- und Präventionskonzepte, die sich in das sozialistische Gesundheitssystem einfügten. Zugleich griff sie beständig auf westliche Begriffe und Praktiken zurück. Durch eine internationale Kontextualisierung des Projekts werden Übereinstimmungen und Unterschiede der östlichen und westlichen Wahrnehmung belastender Auswirkungen der Industriegesellschaft herausgearbeitet. Ferner wird gezeigt, dass das Stresskonzept ein anspruchsvolles Programm sozialer Prävention und Therapie implizierte, dessen Realisierung in beiden politischen Systemen enge Grenzen gesetzt waren.