Abstract
Hans Reiner (1896-) gilt heute als der wichtigste Repräsentant der materiellen Wertethik. Er steht zwar in der Tradition der Ethik von Max Scheler, Nicolai Hartmann und Dietrich von Hildebrand, aber seine Schriften geben doch eine Neubegründung der phänomenologischen Wertethik. Nach einer kurzen bio-bibliographischen Skizze wird in Teil I dieses Aufsatzes gezeigt, wie Reiner sein „Reich der Werte“ aufbaut und wie seine Ethik sich zu der von Kant und Scheler verhält. Ausgehend von Schelers Annahme, daß die Werte wesentlich im Gefühl zur Gegebenheit kommen, definiert Reiner den Wert als das Seiende, das aufgrund seiner Beschaffenheit in irgendeiner Weise unserer Hochschätzung würdig und deshalb als erfreulich erscheint, oder, so lautet eine kürzere Variante, „Wert hat (bzw. ist) was aufgrund seiner Seinsbeschaffenheit Freude und Bejahung weckt, Unwert, was gegenteilige Stellungnahmen begründet“. Teil 1.2. behandelt die wichtigsten Unterscheidungen in diesem „Wertreich“; einerseits gibt es „absolute“ Werte, die an sich erfreulich sind, und andererseits gibt es „relative“ Werte, die bedürfnisbezogen sind. Bei den bedürfnisbezogenen Werten ist es wesentlich, ob sie mir selbst zugute kommen (also „eigenrelativ“ sind) oder für jemand anderen erfreulich sind (= „fremdrelativ“). Die „fremdrelativen“ und die „absoluten“ Werte fasst Reiner zusammen als die „objektiv bedeutsamen“ Werte, deren Verwirklichung gefordert ist. Die „eigenrelativen“ Werte sind demgegenüber nur „subjektiv bedeutsam“ und damit ohne einen fordernden Charakter. In 1.3 und 1.4 skizierren wir, wie sich aus diesen Unterscheidungen das Prinzip von Gut und Böse wie auch das Prinzip des sittlich Richtigen und Falschen ergeben. Sittlich gut ist unser Verhalten, wenn und insofern wir den Forderungen, die von den „objektiv bedeutsamen“ Werten ausgehen, entsprechen; das Böse besteht darin, daß ein nur „subjektiv bedeutsamer“ Wert (wie eigener Genuss oder Besitz) einem „objektiv bedeutsamen“ Wert im Handeln vorgezogen wird. Wenn nicht zu wählen ist zwischen einem „subjektiv“ und einem „objektiv“ bedeutsamen Wert, sondern zwischen zwei oder mehreren „objektiv bedeutsamen“ Werten, geht es nicht um Gut und Böse, sondern um das sittlich Richtige und Falsche. In 1.5 wird dargestellt, daß erst bei der Wahl zwischen konkurrierenden „objektiv bedeutsamen“ Werten die Gesichtspunkte der Wertstärke (Hartmann) oder Wertdringlichkeit (Reiner) eine wichtige Rolle spielen. Die unterschiedlichen Prinzipien, die wir in den verschiedenen Paragraphen an Beispielen erläutern, werden in 1.6 in Reiners kategorischen Imperativ zusammengefaßt. Diesen vergleichen wir dabei mit der Kantischen Formel. In Teil II werden kurz mehrere positive Stellungnahmen über Hans Reiners Ethik angeführt. Der 3. und letzte Hauptteil bringt unsere Kritik an Reiner in 4 Punkten : 1. In seiner Ethik wird nicht berücksichtigt, daß nicht nur die „absoluten“ und „fremdrelativen“ Werte, sondern auch die „eigenrelativen“ Werte — die man gut vom Egoismus unterscheiden soll — eine selbstständige, sittlich positive Bedeutung haben. 2. In Gegensatz zu Reiner sind wir der Meinung, daß alle Werte, also auch die „absoluten“, im Grunde „bedürfnisbezogen“ sind. 3. In Reiners Ethik fehlt jede Form von Analyse oder Kritik der Gesellschaft. Kritiklos akzeptiert er die Werte, sowie sie im Bewusstsein vorhanden sind und im Gefühl zur Gegebenheit kommen. Es wird gezeigt, daß sein Wertbegriff für ein Handeln, das auf gesellschaftliche Veränderungen gerichtet ist, keine Orientierung bietet. 4. Reiner behauptet, daß seine Wertethik der Situation des Handelns und Entscheidens gerecht wird. Demgegenüber wird von uns gezeigt, daß es sich in Wirklichkeit um eine Wesensethik handelt, worin die Situation bei der Essenz der Sittlichkeit, d. h. bei dem Prinzip von Gut und Böse, keine Rolle spielt