Abstract
Vor dem Hintergrund aktueller Bestimmungen des Verhältnisses von Gesellschaft, Kunst und Religion, ist vor allem die Annahme eines jeweils unter besonderen historischen Bedingungen situierten „Wechselspiels von Sakralisierung und Desakralisierung“ hilfreicher als großformatige Prozessbegriffe wie Säkularisierung, Emanzipation oder Modernisierung. So entfaltet sich bereits am Beginn der Neuzeit, in Martin Luthers Fabeln eine „säkulare Option“, die in ihrer radikal desakralisierten Welt- und vor allem auch Sprachwahrnehmung im direkten Gegensatz zu Luthers zeitgleich formuliertem, theologisch untermauertem Sprachvertrauen. Bei Luther zeigt sich damit eine, für den Zusammenhang von Literatur und Religion prinzipiell bedeutsame, synchron entwickelte Polarität von Sprachvertrauen und Sprachkritik, die sich in der weiteren deutschen Literaturgeschichte immer wieder auch als ein Strukturmerkmal – häufig „modern“ genannter – Literatur ausbildet, so etwa bei Klopstock, Hölderlin oder Hofmannsthal.