Abstract
In einer kurzen Abhandlung über das Gedächtnis, die unter dem Namen De Memoria et Reminiscentia bekannt geworden ist, gibt Aristoteles zwei ebenso knappe wie grundlegende Bestimmungen des Gedächtnisses, deren Zusammenhang und mögliche Tragweite ich in diesem Beitrag freilege. Aristoteles schreibt in der ersten Umgrenzung seines Themas mit Blick auf den Gegenstand des Gedächtnisses: ,,Gedächtnis ist von Vergangenem". (Aristoteles 2004, 449a9 ff.) In der Charakterisierung der Art und Weise, wie im Gedächtnis die Affektion von etwas präsent sein kann, das selbst jedoch abwesend bleibt, verwendet Aristoteles dann die enigmatische Formulierung, dass das Gedächtnisbild in uns „von anderem" sei (Aristoteles 2004, 450b30 f.). Um die Tragweite und den Zusammenhang dieser beiden Wendungen zu ermessen, werde ich sie nicht allein in ihrer Aristotelischen Fassung analysieren oder im Kontext ihrer jüngeren Deutung durch Ricoeur erläutern. Ich will sie vielmehr auf die Gedächtnisreflexionen Derridas beziehen, in denen ein innerer Zusammenhang der Zeitlichkeit des Gedächtnisses und der Erfahrung von Andersheit hervortritt und eine grundlegende ethische Dimension von Gedächtnis aufscheint. Um die „gemeinsame struktu- rale Wurzel" (Derrida 1976a, 201) der Temporalisation und des Verhältnisses zum Anderen nachzuzeichnen und ihre grundlegende Bedeutung für eine Ethik der Alterität zu erläutern, erörtere ich (I.) zunächst, was es heißen mag, dass Gedächtnis von Vergangenem ist und Vergangenes in seinem Vergangensein erschließt. In einem zweiten Zug (II.) beschreibe ich, inwiefern diese Bestimmung wesentlich damit verknüpft ist, dass Gedächtnis „von anderem" ist und eine Möglichkeit der Erfahrung von Andersheit eröffnet. Die systematische Bedeutung, die die Zeitlichkeit des Gedächtnisses vor diesem Hintergrund für eine Ethik der Alterität erhält, erläutere ich schließlich (III.), indem ich die gedächtnishafte Struktur der Verantwortungsrelation analysiere.