Abstract
„Daß alle Sätze die Zeit in irgendeiner Weise enthalten, scheint uns zufällig, im Vergleich damit, daß auf alle Sätze die Wahrheitsfunktionen anwendbar sind.“ Die Zeit „schmeckt nach Inhalt“, die Wahrheitsfunktionen hingegen nach „Darstellungsform“. Diese Bemerkung Wittgensteins spiegelt eine Intuition wider, von der sich der überwiegende Teil analytischer Sprachphilosophie leiten lässt. Sebastian Rödl zeigt in seinem Buch, dass diese Intuition fehlgeht und dabei mit einem verengten Verständnis von Logik und einer falschen Auffassung der Natur unseres endlichen Verstandes zusammenhängt. Für einen endlichen Verstand sind entgegen dieser Intuition „Wahrheitsbezug und Zeitbewußtsein [...] zwei Seiten einer kognitiven Form“ (81), und in einer diesem Verstand angemessenen, aus dem Prinzip des Anschauungsbezugs entwickelten Logik fällt die Zeit nicht auf die Seite des Inhalts, wie Wittgenstein gemutmaßt hatte, sondern charakterisiert die Formen unseres Aussagens: die Formen prädikativer Einheit. Das von diesem Gedanken vorausgesetzte Verständnis von Logik entfaltet Rödl im ersten Teil seiner Arbeit; das für einen anschauungsbezogenen Verstand charakteristische System der Formen zeitlicher Aussagen entwickelt er im zweiten Teil. In meiner Besprechung konzentriere ich mich auf eine Beschreibung des Systems zeitlicher Aussageformen (I), um dieses System in einem zweiten Schritt daraufhin zu befragen, ob sich durch dessen Darstellung tatsächlich ein angemessenes und vollständiges Bild der Zeitlichkeit eines endlichen Verstandes ergibt (II).