Abstract
Bei seiner -- wie vorausgeschickt -- strategischen Bestimmung des ganzheitlichen Standortes der Philosophie in ihrem Entfaltungsprozeß verfährt Hegel in der Differenzschrift zweigleisig. Auf der einen, mehr sichtbaren und auch in der philosophischen Tradition gründlicher und tiefer rezipierten Ebene liefert er die berühmte und bei jeder Bestimmung der Philosophie und des »philosophischen Bedürfnisses« bis heute überhaupt viel zitierte Definition, wonach in dem neuen welthistorischen Weltalter der Entzweiung ein qualitativ neues Bedürfnis nach der Vereinigung der Gegensätze, d.h. nach »Philosophie« artikuliert wird. Weil es nicht zum direkten Gegenstand unseres Versuchs gehört, deuten wir nur in unausgeführter Form an, wie und warum wir einen spezifischen Verdacht gegenüber dieser allseits ohne jegliche Kritik akzeptierten Definition hegen. Dieser Verdacht gründet sich einerseits auf der Tatsache, daß diese Definition ein starkes Zugeständnis an die aufkommenden romantischen Evidenzvorstellungen enthält. Im Anbetracht von Hegels stets artikulierter antiromantischer Einstellung dürfte es direkt auffallen, warum er gerade bei einer so unmittelbaren Kategorisierung des allerneuesten Weltalters eine in ihrer Struktur und in ihren Wertvorstellungen »romantische« Ansicht vertritt. Versucht man ferner den Gehalt dieser Einschätzung interpretativ noch weiter zu rekonstruieren, so läßt sich dieser Gehalt bald geradezu antihegelianisch auslegen. Denn eine »Vereinigung«, deren »Macht« unterging und eine »Einheit«, deren Macht und Geltung deshalb wiederhergestellt werden muß, klingt nicht nur als romantische »Grundbefindlichkeit«, sondern läßt sich auch als eine Auffassung verstehen, die den Grundintentionen der Geschichtsbetrachtung auch des jungen Hegel diametral widerspricht, denn wo ließe sich bei ihm eine mögliche Periode, oder zumindest eine Antizipation der möglichen »Einheit« in seinen Gedanken nachweisen?