Abstract
„Der introvertierte Gedankenarchitekt wohnt hinter dem Mond, den die extrovertierten Techniker beschlagnahmen.“ Begibt sich der Rechtswissenschaftler in die philosophischen Tiefen der Reinen Rechtslehre, dann erscheint die Grundnorm als eine janusköpfige Figur, die den erstaunten Leser vor ein Rätsel stellt. Ihre äquivoke Natur manifestiert sich dabei nicht nur in Kelsens variabler Bezeichnung derselben, sondern ebenso im Wandel seiner erkenntnistheoretischen Konzeptionen. Spricht Kelsen in den zwanziger Jahren noch von einer „hypothetische[n]Annahme“, so mutiert die Grundnorm in den dreißiger Jahren zur „transzendental- logische[n] Bedingung“, um am Ende seiner Schaffenszeit in einer „echten […] Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-Ob“ zu kulminieren. Bedenkt man, dass hier die schillernde Frage nach der Letztbegründung von Recht aufgeworfen wird, dann verwundert es nicht, dass die Rezeption der Grundnorm variiert, vom Postulat, „das Herz und die Seele der Reinen Rechtslehre“ zu sein, über einen „herausragenden Platz“, bis hin zum „Denkbehelf im Dienste der Selbstreferenz des Rechts“.