Abstract
Der Mythos von Odysseus am Mastbaum, der den Sirenen lauscht, ohne ihren Verlockungen zu erliegen, hat in der patristischen Theologie vielfältige Resonanz gefunden. Die freie Selbstbindung an das Kreuz wurde als Modell christlicher Welthaltung gedeutet, die den Gefährdungen des Lebens standhält. Die Sirenen wurden dabei sowohl als Sinnbild sinnlich-erotischer Verlockung als auch als Symbol paganer Wissenschaft und Weisheit interpretiert. Neben scharfer Kritik an der moralischen Verwerflichkeit gibt es positivere Lesarten. Clemens von Alexandrien fordert eine dialogische Aufgeschlossenheit für die griechische Kultur, um den Glauben besser zu verstehen; Ambrosius von Mailand würdigt den ästhetischen Reiz der Sirenen, um vor dieser Folie die Schönheit des Glaubens umso leuchtender herauszustellen. Maximus von Turin schließlich sieht im gefesselten Odysseus eine Präfiguration des Gekreuzigten selbst, der die Mächte des Todes besiegt. Eine signifikante Umdeutung des Odysseus-Mythos erfolgt an der Schwelle zur Neuzeit bei Dante, der die Sicht aus Vergils Aeneis übernimmt. In der Divina comedia ist Odysseus der vom Welthunger getriebene Abenteurer, der Grenzen missachtet, Schiffbruch erleidet und schließlich im Inferno landet. In der Literatur der Moderne findet sich bei Paul Claudel ein später Nachhall dieser Umschreibung. Ein Jesuitenpater, der, an einen Balken gefesselt, richtungslos über den Ozean treibt, findet gerade in seiner Verlorenheit neu einen Zugang zum Gekreuzigten. Die Erfahrungen existentieller Verlorenheit, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts eindrücklich geschildert werden, hat der Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar zum Anlass genommen, eine entsprechende Karsamstagstheologie zu entwerfen, welche die Verlorenheitserfahrungen auf das Motiv des descensus ad inferos bezieht.