Abstract
Nach der vorherrschenden Auslegung der Verwandlung erzählt diese Novelle die Metamorphose eines Menschen zu einem ungeheuren Ungeziefer. Diese Deutung hat sich aber bisher als unzulänglich erwiesen, die Komplexität der Erzählung zu erklären, was, so erstaunlich es auch scheinen mag, dazu führt, dass die berühmteste von Kafkas Erzählungen nach wie vor als »unverständlich« gilt. Der vorliegende Aufsatz stellt das vorherrschende Paradigma infrage, indem er eine kohärente Gesamtinterpretation der Novelle vorstellt, die den Text durchaus verständlich und sinnvoll macht. Der Ausgangspunkt liegt in der Annahme, dass sich in der Erzählung zwei einander entgegengesetzte Versionen des narrativen Inhalts finden — z. B. Gregor als ungeheures Ungeziefer versus Gregor als Mensch -, und dass diese beiden Versionen einer Logik des Opfermechanismus unterliegen, aus der heraus sie erklärbar werden. Die Hypothese, dass Die Verwandlung die literarische Nachbildung einer Situation der »verzerrten Objektivität« ist (ein Phänomen, das sehr oft in Täter-Opfer-Prozessen vorkommt und ernste Verzerrungen der Wahrheit mit sich bringt), führt zur Lösung eines schwierigen Rätsels in der Kafka-Forschung.