Abstract
In der langen Geschichte der Dante-Auslegung gab die Plastizität des ‚Inferno‘ immer wieder Anlass zur poetologischen Reflexion und zu stilkritischen Vergleichen mit anderen Werken der Weltliteratur. Giacomo Leopardi und Italo Calvino etwa begriffen Ovids ‚Metamorphosen‘ als ästhetischen Gegenpol zu Dantes Jenseitsdichtung und erklärten, der mannigfaltige und üppige Stil des antiken Textes ziele auf Effekte der Abstraktion und Leichtigkeit ab, während der knappe und konzise Stil des ‚Inferno‘ eine fest umrissene Bildhaftigkeit bewirke. Leopardis und Calvinos allgemein formulierte Beobachtungen lassen sich am Beispiel der ersten Metamorphose im XXV. Höllengesang genauer nachvollziehen. Dantes Schilderung der Vereinigung eines Verdammten und einer Schlange steht in engem intertextuellen Zusammenhang mit der Hermaphroditus-Episode im vierten Buch von Ovids ‚Metamorphosen‘. Die Analyse der rhetorischen und narrativen Verfahren in diesen beiden Passagen zeigt, in welchem Maße der gegensätzliche Stil der beiden Autoren Ausdruck unterschiedlicher Denkformen ist: Ovids Gestaltung des Themas spiegelt die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten wider, mit denen sich die Erscheinungen der Welt verknüpfen lassen; in Dantes Darstellung hingegen soll noch das kleinste sprachliche Detail die Absolutheit der göttlichen Ordnung abbilden, die sich überall auch in der Verwandlung als sinnvoll und gerecht offenbart.