Psyche 77 (9-10):824-848 (
2023)
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Abstract
Das »szenische Verstehen« nimmt seit den Arbeiten von Hermann Argelander (1966, 1968) und Alfred Lorenzer (1970) einen festen Platz in der Theorie der psychoanalytischen Behandlung ein. Diese Form des Verstehens bildete eine wichtige Erweiterung des Umgangs mit Übertragung und Gegenübertragung sowohl im Erstinterview als auch im Verlauf eines analytischen Prozesses. Szenisches Verstehen zielt auf verdrängte und/oder nur unzureichend symbolisierte unbewusste Prozesse, die zur Entstehung spezifischer Leidenszustände eines Menschen geführt haben und sich auch noch in der Gegenwart in Phantasien und Erwartungen äußern. Mittels Übertragung kommen sie sprachlich wie nichtsprachlich zum Ausdruck. Die jeweilige aktuelle Beziehung zum Analytiker wird dabei als »Szene« oder »Situation« zum Ausgangspunkt des szenischen Verstehens. Seit der intersubjektiven und relationalen Wende scheint das szenische Verstehen aber entweder selbstverständlich geworden zu sein, durch Konzepte angloamerikanischer Autoren an den Rand gedrängt oder theoretisch eingemeindet worden zu sein. Der Beitrag skizziert, wie das szenische Verstehen weiterhin einen zentralen Stellenwert im analytischen Prozess des Zuhörens einnehmen und mit anderen Konzepten verbunden werden kann. Dazu werden anhand einer Szene in einem Erstinterview einige intersubjektive Komponenten des szenischen Verstehens betrachtet, die für das weitere szenische Geschehen sensibilisieren können.