Abstract
ZusammenfassungDer tragische Schluss der Emilia Galotti hat von Anfang an gespaltene Reaktionen hervorgerufen. Noch heute sind zahlreiche Missverständnisse im Umlauf. Stimmen, die seine fragwürdige Konstruktion bemängelten, verklangen bald. Stattdessen wurde nach Verantwortlichen für die Katastrophe gefahndet. Dass schon bald der Vater, Odoardo Galotti, in Haftung genommen wurde, liegt, so die These, nicht zuletzt an einer Umwidmung oder Neukonzeption des tragischen Opfers. Es wird mit zentralen Versatzstücken der zeitgenössischen Geschlechtersemantik aufgeladen und einer metadramaturgischen Reflexion unterzogen. Emilias Selbstopfer ist ein Opfer im Wortsinn, es stattet die victima mit allen Attributen des sacrificiums aus. Und es ist ein Opfer, das maßgeblich von der Figur selbst in die Wege geleitet und vollzogen wird. Ein Großteil der nachfolgenden Dramatik arbeitet sich unter Übernahme der geschlechteranthropologischen Prämissen an diesem fulminanten Ende ab. Die Unterminierung einer bürgerlichen Würdekultur durch eine bald sich etablierende Kultur des Opfers setzte schon damals ein. Tatsächlich dokumentiert das Stück eine Krise der Tragödie. Wenn schon das Opfer selbst eine Darstellungsfunktion besitzt, dann steht bis heute zur Debatte, welche Funktion die Darstellung des Opfers besitzt.Ever since, the tragic ending of Emilia Galotti has stimulated divided reactions. Even today numerous misreadings occur. Voices which criticized its questionable or yet dubious construction soon faded. Instead of that, responsibles have been searched for. Especially Odoardo Galotti, Emilia’s father, has been taken into accountability. The reason for this, thus the claim, lies in a new conception of tragic sacrifice. It is being charged with central elements of contemporary gender anthropology. Furthermore, it undergoes a metadramaturgic reflection. Emilia’s self-sacrifice represents a genuine »Opfer« in the literal senses of victima and sacrificium. Actually, this sacrifice is significantly initiated and performed by the character itself. A major part of subsequent dramatic production is adopting the tragedy’s premises on gender anthropology while commenting on the fulminant ending. It is as early as this that a bourgeois culture of dignity is being undermined by a victimhood culture. The drama does in fact document a crisis of tragedy itself. If already sacrifice possesses a dimension of representation, a further question remains yet unanswered: Which function does representation of sacrifice fulfill?